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Was ist das Geheimnis des Serien-Booms?

«Game of Thrones», «House of Cards», «Breaking Bad» und viele andere TV-Serien ziehen uns in ihren Bann. Nächte vor dem Laptop oder TV. Vorprogrammiert. Doch warum ist das so? Eine Fernsehwissenschaftlerin weiss warum.

Schauspieler Aaron Paul und Bryan Cranston mit gelben Anzügen und Atem-Maske auf dem Kopf

LINK: Einer der Gründe, warum Serien eine ­derartige Popularität geniessen, sind die vielschichtigen Charaktere. Teilen Sie die Einschätzung?
Ursula Ganz-Blättler: Es ist sicher ein Merkmal dieser sogenannten Quality Series, dass man die Autoren hinter der Geschichte stärker spürt. Diese Serien weisen Tendenzen hin zum Roman auf, wenn man so will: Die Figuren entwickeln sich stetig weiter. Aber das begann bereits früher. Schon in «Lost» oder «Grey's Anatomy» finden Sie komplexere zwischenmenschliche Beziehungsmuster, als sie davor in TV-Serien üblich waren. Was die Serien neuerer Anbieter wie Netflix auszeichnet, ist, dass sie als komplette Staffeln angeboten werden. Im Vergleich zu den klassischen Fernsehserien fallen die «Löcher» zwischen den einzelnen Episoden weg, in denen eine Serie situativ weiterentwickelt werden konnte.

Mittels Interaktion mit dem Publikum?
Ja. Die klassische Serie erzählt von Folge zu Folge eine in sich geschlossene Geschichte. Fällt sie beim Publikum durch, kann sie daher innerhalb einer Woche abgesägt werden. Die in der Regel wöchentliche Ausstrahlung einer Folge führt umgekehrt jedoch auch zu einer engeren Bindung des Publikums, weil es sich zwischen den Folgen aktiv mit der Serie beschäftigt. Früher in sogenannten Fanzines, heute im Internet. Vor allem bei Soap-Operas zeigt sich dieser Fan-Austausch sehr ausgeprägt. Bezahlsender wie HBO waren hier eine wichtige Neuerung: Weil das Publikum als Abonnent schon gegeben war und nicht mehr mit jeder Episode neu ­gewonnen werden musste, konnte man Serien staffelweise im Voraus gestalten – was das Format natürlich für Schauspieler wie Autoren interessanter machte.

Von «Sex and the City» wurden jeweils zwei Versionen produziert, eine fürs Bezahlfernsehen und eine entschärfte Fassung für die restlichen Fernsehstationen.

HBO hat 1999 die Mafiaserie «The ­Sopranos» lanciert, die noch heute als Vorreiterin für die jüngsten Serienerfolge zitiert wird. War das die Zäsur?
Sie nennen die richtige Serie. Durch die Abonnementsgebühr fürs Bezahlfernsehen wurden auch die Erwartungen des Publikums an eine Serie grösser – es war nun eher möglich, Tabus zu brechen, was in den klassischen Fernsehstationen so nicht möglich war. «The Sopranos» hat das erstmals ausgeschöpft: Mehr Gewalt, zwielichtige Hauptfiguren oder die Reflexion von gesellschaftlich brennenden Themen. Ein anderes Beispiel ist «Sex and the City» – davon wurden jeweils zwei Versionen produziert, eine fürs Bezahlfernsehen und eine entschärfte Fassung für die restlichen Fernsehstationen. Die Wagnisse sind grösser geworden, erzählerisch haben Revolutionen stattgefunden.

Kultserien mit entsprechenden Innovationen gab es schon vor dem Internet-TV, zum Beispiel die komplexen Beziehungskon­stellationen in ‹Dallas›.

Die Abkoppelung von den Programmstrategien der TV-Stationen, die Länge oder Frequenz einer Serienfolge bestimmten, hat zu einer völlig neuen Freiheit geführt. Kultserien mit entsprechenden Innovationen gab es schon vor dem Internet-TV: die verschachtelte Erzählstruktur von «Twin Peaks», die komplexen Beziehungskonstellationen in «Dallas», die Reflexion von ­gesellschaftspolitischen Themen in «Star Trek».

Diesen Entwicklungen steht die Polizeiserie «Tatort» wie ein Dinosaurier gegenüber: Jeden Sonntagabend versammelt sich ein Millionenpublikum vor dem Fernseher für einen Krimi, dessen Grundmuster sich kaum verändert hat. Was ist das Geheimnis?
Diese treue Anbindung des Fernsehpublikums im Internet-Zeitalter gibt es nur noch bei zwei Genres: beim Krimi, dessen Fallstruktur stark mit konventionellen Erzählmustern und abgeschlossenen Einzelgeschichten verknüpft ist, und bei der oft belächelten Sitcom. Dort verfängt die ganze Debatte um Quality Series nicht. Sie widerstehen den jüngsten Entwicklungen und halten trotzdem ihr Publikum. Was den «Tatort» betrifft, so glaube ich, dass die regional verschiedenen Polizeiteams, die noch aus der Zeit der föderalistischen deutschen Landessender stammen, die Anbindung verstärkt. Aber auch die relativ lange Spielzeit der Episoden, die eine Psychologisierung der Figuren erlaubt und regelmässig kontroverse Themen aufgreift, macht die Serie zum Strassen­feger. Für den Moment funktioniert das gut – wie lange noch, da würde ich hingegen ein Fragezeichen setzen.

Das Gespräch wurde ursprünglich für das Magazin LINK geführt. Auf der Website der SRG Deutschschweiz kannst du das Interview in voller Länge lesen.

Interview: Andreas Schneitter
Bild: AMC

Tags: serien

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